Fünfter Brief: Roetgen, den 1. Februar 1865
Lieber Freund!
In meinem letzten Brief bin ich mit der Schilderung meiner Reise bis zu Dorfe Rohren gekommen, und wenn wir nicht
anfangen schnellere Fortschritte zu machen, so wird das wohl eine langwierige Reise werden. Wir wollen daher mit
einem Male Rohren verlassen, insbesondere, da wir jetzt auf lange Zeit ein sehr unbequemes gebirgiges Terrain vor
uns haben. Zuerst müssen wir jetzt auf Eicherscheid zu, bei welcher Route das Ruhrthal überschritten werden muß.
Ich finde hierbei in einem Taschen- Klatschbuche eine schon früher von mir aufgezeichnete Notiz, welche also lautet:
Von Rohren nach Eicherscheid hat man einen einfachen Fußpfad. Derselbe führt zuerst durch Saatfelder und zwar
sanft absteigend; bald tritt man aber in vermengtes Gebüsch, wo der Weg mit jedem Schritt jäher wird und
terrassenförmig durch das Dörfchen Widdau dem Ruhrflusse zueilt. Nachdem man diesen überschritten hat und an
der links bei der Ruhr stehenden Färberei Gronenthal vorbei ist, steigt und windet sich der Weg mühsam durch ein
bewaldetes Nebenthal der Ruhr hinauf. Auf der Hochfläche angelangt, tritt das Gehölz zurück und man gelangt,
durch Äcker und Wiesen schreitend, und immer noch bedeutend ansteigend, bald nach Eicherscheid.
Wie Du aus dem Vorstehenden entnehmen kannst, liegt das Dörfchen Widdau am Abhange des rechten
(südlichen) Ufers der Ruhr. Es ist ein kleines ganz im Gebüsch verstecktes Örtchen, dessen Einwohner sich von der
Ackerschaft und Waldbeschäftigungen ernähren (der Eine oder Andere auch von Fabrikarbeiten). Der Boden ist hier
fruchtbar, aber das Klima immer noch zu kalt, namentlich da der jähe Abhang, worauf Widdau und das dazu
gehörende Ackerland liegt, ein nördlicher ist und somit den wärmenden Sonnenstrahl vielfach entzogen ist. Wohin
das Dörfchen eingepfarrt ist, weiß ich nicht; es besitzt aber selbst weder Kirche noch Schule. Der Frommsinn der
Bewohner gibt sich hier wie in allen Ortschaften der gebirgigen Gegend des Montjoier Landes kund, durch die vielen
Kreuze, die man an den Häusern und Straßen erblickt und die, nach dasigem Geschmack des Landvolkes, zum
Theil sehr zierlich angefertigt und geschmückt sind. Über die Ruhr ist eine hölzerne Brücke gelegt, die einzige von
solcher Konstruktion, die ich bisher noch gesehen habe. Von den einzelnen Längebalken besteht nämlich jeder aus
drei Theilen, welch so aneinander gefügt sind, daß sie sich, ohne Pfeilerunterstützung, teils selber tragen, theils
durch das nach diesem Zweck gebaute Geländer getragen und in die Höhe gehalten werden.
Auf dem linken Ruhrufer trifft man, wie gesagt, ein Fabrikgebäude (Tuchfärberei?) das, wenn ich mich nicht irre,
einem Fabrikanten aus Imgenbroich gehört. Aus letzterem Ort ist auch eine Chaussee schräg in das Ruhrthal hinein
bis zu diesem Orte angelegt. Von der Ruhr bis nach Eicherscheid führt der Weg begreiflicherweise wieder bergan
und zwar sehr stark. Er hat eine meist nordöstliche Richtung, während der von Rohren bis zum Ruhrfluße
größtentheils die gerade südliche Richtung hat. Die Strecke von Rohren nach Eicherscheid beträgt eine gute Stunde
Weges.
Den 2. Februar: Eicherscheid liegt auf einer Hochfläche, die nach Ost und Süd in weitem Umfange von der Ruhr
umflossen wird und zum größten Theil gerodet ist. Das Dorf hat schöne Häuser und Gärten und unter den
Einwohnern, die sich fast ausschließlich von der Ackerschaft ernähren, gibt es viele sehr wohlhabende Leute. Die
Gärten und Wiesen sind, wenigstens im Innern des Dorfes, mit schönen Buchenhecken eingefaßt und gereichen
dem Dorfe, da Letztere mit großem Fleiß gezogen und gepflegt werden, zur schönsten Zierde. Außerdem tragen
diese "Hagen" viel zur Erwärmung des an sich kalten Klimas bei, wovon ich mich im vorigen Jahre hinreichend
überzeugen konnte, denn beim dortigen Pfarrer traf ich im Frühsommer Kopfsalat in solchem Maße an, daß die
Haushälterin nicht wußte aus und ein damit und viel davon an die Nachbarn verschenkte, um denselben quitt zu
werden, und das zwar zur Zeit, wo man bei uns in Roetgen noch nicht an frischen Salat denken konnte, ein Beweis,
wie sehr ein Klima durch menschlichen Fleiß verbessert werden kann.
Kirche, Pfarrhaus und Kaplanei liegen hier dicht beisammen mitten im Dorfe, während jedoch die Schule, ein
neues hübsches Haus, etwas weiter entfernt nach Osten zu gelegen ist. Erstere scheint für die gegenwärtige
Bevölkerung zu klein zu sein, sofern das Dörfchen Hammer hierhin eingepfarrt ist und ebenso viele Leute aus
Huppenbroich; welcher Ort zwar nach Simmerath gehört, des Sonntags nach Eicherscheid zur Kirche kommen.
Eine eigenthümliche Erscheinung für den Fremden sind die Ziehbrunnen hierorts, und zwar durch ihre sonderbare
Einrichtung das Wasser zu schöpfen. In einiger Entfernung vom Brunnen ist auf einem einfachen Gestelle ein langer
hölzerner Balken oder Baum so angebracht, daß er sich gleich einem Waagebalken im Gestelle bewegen kann und
das die Spitze des vorderen leichten Theiles desselben mit der Öffnung des Brunnens in perpendikularer Lage sich
befindet. An dieser Spitze ist dann ein anderes leichtes Holz, auch wohl eine Kette, ein Seil oder dergleichen
befestigt, welches mit dem unteren Ende gerade die Öffnung des Brunnens erreicht, so lange als der Hebelbalken
sich in seiner natürlichen Lage befindet. An diesem perpentikular hängenden Holze wird unten in einer Krampe das
Schöpfgeschirr eingehängt. Das hintere schwere Ende des Schwebebalkens dient dazu, das Schöpfgeschirr mit dem
Wasser in die Höhe zu heben, doch muß dieser Theil des Balkens begreiflicher Weise nicht schwerer sein, als daß
man das vordere Ende mit dem anhängenden Wasserkübel zur Füllung mit den Händen herunter ziehen kann. Diese
eigenthümliche Art, das Wasser zu pumpen, findet man hin und wieder durch das ganze Montjoier Land, am
häufigsten jedoch in Eicherscheid. Die Brunnen liegen fast alle auf offener Straße oder bei den Häusern auf
Privateigenthum. Übrigens ist das Montjoier Land reich an gesundem Trinkwasser.
Von Eicherscheid geht es nach Dedenborn. Letzterer Ort heißt in der gemeinen Volkssprache "Dehmer", was ich
hier bemerke, weil Du sonst leicht in Irrthum kommen könntest, da die verschiedenen Benennungen, wie Du siehst,
weit voneinander abweichen. Über die Beschaffenheit dieser Route entnehme ich wieder dem genannten
Taschenbuch folgendes: "Von Eicherscheid nach Dedenborn zuerst leicht absteigend durch Ackerland, das mit
einzelnen öden Flächen wechselt. Dann tritt der Weg in Gebüsch und wird immer jäher, je mehr man sich dem
Ruhrfluße nähert. Den Ruhrfluß überschritten, steigt man wieder eine steile Anhöhe hinan, auf welcher Dedenborn
liegt." Zu dieser kurzen Schilderung bemerke ich nur noch, daß von Eicherscheid aus der Weg sich den Ruhrfluße
nur langsam und allmählich nähert, um dadurch die gar zu jähe Steilheit des Ruhrufers zu brechen. Bei der "Dehmer
- Mühle", einer einfachen aber vortrefflichen Getreidemühle am diesseitigen Rande des Ruhrflußes, überschreitet
man die Ruhr mittels einer schmalen hölzernen Brücke. Sodann beginnt wieder das mühsame Steigen, denn
Dedenborn liegt auf einem terrassenförmigen Hügelrücken des hier sehr hohen rechten Ruhrufers. Man hat zwar, um
das Fahren zu erleichtern, einen neuen Weg an diesem steilen Berge hinauf angelegt, der aber gleichfalls noch sehr
beschwerlich ist, trotzdem er den Berg mittels eine Böschung, die den Weg um mehr als die Hälfte verlängert,
ersteigt.
Dedenborn scheint in Hinsicht der Bauart seiner Häuser von den andern Dörfern des Montjoier Landes
abzuweichen und sich mehr dem oberen Theile des Jülicher Landes (dem ehemaligen Eisling) zu nähern. Es liegt
auf einer Terrasse des sich nach Südost noch höher erhebenden Kermeter Hochwaldes und wird von der Ruhr,
deren Thal hier mit herrlichen Grasbenden, Viehweiden und Obstgärten geschmückt ist, halbinselförmig umflossen.
Nach Dedenborn sind die Dörfchen Seifenauel, Rauchenauel und Flastreng eingebürgert. Das Erstere liegt
nordwestlich von Dedenborn am Abhange des Berges, das Zweite ganz im Thale der Ruhr. Beide Ortschaften muß
ich durchwandern, wenn ich von Dedenborn weggehe. Längs dem Wege von Dedenborn bis unten in der Nähe des
Ruhrflußes sind die 14 Stationen angebracht, und zwar am Ruhrfluße anfangend und oberhalb der Kirche von
Dedenborn endigend. Die sehr schönen Bilder sind in kaminähnliche Mauern eingefaßt und mit einem eisernen
Gitter umschlossen. (Cosler schreibt anstatt Rur "Ruhr", W.W.).
Der Weg von Dedenborn nach Kesternich ist wieder äußerst mühsam, indem eine der steilsten Anhöhen erstiegen
werden muß, die ich auf der ganzen Reise antreffe. In meinem Taschenbuch findet sich hierüber Folgendes
angemerkt: "Von Dedenborn nach Kesternich steigt man wieder bergunter bis zum Ruhrfluße. Nachdem man diesen
überschritten hat, geht es wieder stark bergan und man gelangt zur Landstraße, die sanft ansteigend in westlicher
Richtung nach Kesternich und weiter nach Simmerath hinführt." Den Weg bis zum Ruhrfluße habe ich zuvor schon
geschildert; man geht hier wieder über eine schmale hölzerne Brücke und das darauffolgende "stark bergan gehen"
wird Jedem wahrhaftig klar, der den Weg macht, wie ich ihn mehrmals bei nur mäßigen Sonnenschein gereist bin, so
daß der Schweiß mir an allen Stellen des Leibes ausbrach, und ich mehrmals stehen blieb, weil mir der Athem
ausgehen wollte. Man blickt während des Steigens manchmal wie ein Verzweifelnder sehnsuchtsvoll nach dem
Gipfel hinauf, ob derselbe noch nicht bald erreicht sei. Beim Herabschauen seitwärts ins Thal der Ruhr, schaudert
man vor der gewaltigen Tiefe und überdenkt die schauerlichen Folgen eines etwaigen Sturzes von dem schmalen
Wege hinab. Ja die Beschaffenheit eines solchen Weges ist nicht mit der Feder zu schildern. Man muß selber
schauen und prüfen. Auf der Höhe, das heißt auf der Landstraße angelangt, muß man einige Minuten ausruhen,
bevor man sich "Eine" anzünden kann.
Den 5. Februar: Besagte Landstraße verbindet die Ortschaften Gemünd (Schleiden), Herhahn, Einruhr usw. mit
Kesternich und Simmerath und führt unter ungeheuren Umwegen und Windungen von Einruhr nach Kesternich
heraufkommend, längs der süd- und südöstlichen Abdachung des bekannten Berges hin, so zwar daß man die
äußerste Spitze des Letzteren nicht erreicht. Wie von vielen anderen Bergeshöhen längs der Ruhr hinab und hinauf,
so hat man auch hier an verschie-denen Stellen der Kesternich - Einruhrer Landstraße die herrlichsten Fernsichten,
die man sich denken kann. Ostwärts über der Ruhr sieht man weithin nichts als graue unbewaldete Berge, einer
hinter dem Anderen und einer neben dem Anderen; nur hier und da strebt in weiter Ferne ein Kirchthurm in die
Höhe, zum Zeichen, daß die unwirthbar scheinende Gegend doch bewohnt ist. Bei solch oberflächlicher
Besichtigung jener Gegend des Schleidener Kreises meint man nämlich nicht, daß zwischen den öden Bergkegeln in
den Thälern noch so vieles gute und fruchtbare Ackerland liegen könnte, als dies wirklich der Fall ist. Im Vordergrund
nach Osten zu erhebt sich ganz in der Nähe ein nackter Felsberg, welche denjenigen, auf welchen man steht an
Höhe noch übertrifft und Dedenborn von Einruhr trennt. Die Spitze desselben ist mit einem alten hölzernen Kreuz
versehen, was dem kahlen Felskegel ein imposantes Aussehen verleiht und an den Kalvarienberg erinnert. An
diesem Kreuze führt der alte Weg von Einruhr nach Kesternich vorbei. Am schönsten entfaltet sich aber das
Gemälde nach Süden hin. Dort hat man gerade vor sich das Thal der Ruhr, welches sich zu einem großen
kesselförmigen Becken gestaltet, dessen Tiefe auf sieben bis achthundert Fuß anzunehmen ist. Die Sohle und die
unteren Wandungen dieses herrlichen Kesselthales sind mit Häusern, stattlichen Wiesen und Obstgärten
geschmückt. Weiter hinauf sind die Ufer mit Hochwald bedeckt, der sich nach Süden hin auch über das Thal hinaus,
soweit das Auge sieht, erstreckt.
An der südöstlichen Wandung des Kessels liegt auf einem schmalen kultivierten Hügelrücken Dedenborn mit
seinen ländlichen Wohnungen und dem einfach schönen Kirchlein, während die Ruhr in weitem Halbkreise um den
Hügel herum fließt, wie wenn sie anzeigen wollte, daß sie dem Dörfchen unterthänig sei. Alles dieses von der Höhe
herab, wie ein Vogel in der Luft, zu übersehen, gewährt einem wahrlich Ersatz für die gehabte Mühe des
beschwerlichen Steigens, und die Einbildungskraft ist auf lange Zeit gefesselt von dem entzückenden Eindruck, den
die Naturbilder auf den Beschauer machen. Du kannst mir glauben, lieber Freund, wenn ich ein Photograph wäre, so
würde ich keinen Augenblick säumen, dieses Terrain bildlich wiederzugeben. Doch wir müssen jetzt machen daß wir
weiterkommen. Man hat nunmehr eine gute Chaussee bis Kesternich und bis Simmerath. Bis Kesternich steigt
dieselbe noch immer und ist anfänglich von beiden Seiten mit Waldungen eingeschlossen; weiter hinauf dehnen sich
große Ackerfelder, aber auch nicht minder magere Viehtriften, die vielfach als Schafsweiden benutzt, bis nach
Kesternich aus.
Kesternich ist ein mittelmäßig großes Pfarrdorf und Bürgermeistereiort. Das Pfarrhaus dort ist in den letzten paar
Jahren neu gebaut worden. Es gibt hier viele Maurer und Pliesterer (Klatschleute), sowie auch Zimmerleute und
Schreiner. Daneben wird aber auch Ackerschaft und Viehzucht stark betrieben. Übrigens habe ich von diesem Ort
nichts Besonderes zu bemerken, da es eben nur ein gewöhnliches Montjoier Dorf ist.
Von Kesternich gelangt man in einer halben Stunde durch eingefriedigte Wiesen nach Simmerath. Der Ort liegt mit
Kesternich, Steckenborn, Schmidt usw. sehr hoch auf einer Gebirgsfläche, welche die Wasserscheide zwischen Kall
und Ruhr bildet. Die Düren - Montjoir Landstraße führt hier durch. Die Kirche zu Simmerath ist in Kreuzform gebaut
und erscheint durch in jüngerer Zeit gemachte Anbauten und Erneuerungen als ein noch neues Gebäude; nur der
Thurm ist in seiner Urform zu sehen. Als eine der ältesten Pfarreien des Montjoier Landes gehören auch jetzt noch
mehrere Ortschaften in der Umgebung zum dortigen Pfarrsprengel, als nämlich: Bickerath, Witzerath,
Huppenbroich, Paustenbach, Rollesbroich und Strauch. Letzterer Ort hat zwar schon seit mehreren Jahren eine
Kirche mit einem ständigen Geistlichen, ist aber bis dahin der Pfarrei Simmerath noch als Filiale unterstellt ge-
blieben. Auch Rollesbroich hat in den letzten Jahren eine Kirche gebaut, sie ist wie ich gehört habe am vorigen
Donnerstag, Maria Lichtmeß, eingesegnet worden. Für die Anstellung eines Pfarrers sieht es aber noch düster aus,
da es an einer Wohnung und gewiß auch an Einkommen für denselben fehlt.
Alles war ich Dir bisher über meine Reise geschildert habe, war beim letzten Rundgang das Werk von einem Tage;
in Simmerath blieb ich über Nacht. Bevor ich demnach weiter fortfahre, wollen wir auch der Feder eine Ruhe
vergönnen, um Morgen oder an einem anderen Tage wieder desto muthiger weitergehen zu können. Herzlich
grüßend wünscht Dir daher ebenso freundlichst als ergebenst eine gute Nacht,
Dein Freund,
Hermann Josef Cosler.