an eine schwierige, gefährliche und schöne Zeit                                                                                        Von Käthe Vogel
Die Zeitzeugin Käthe Vogel zitiert aus Ihren “Erinnerungen”: Aus meinen Erinnerungen, Teil 2
Am 30.4.1944 wurde mein verstorbener Ehemann, Walter Vogel, wegen 100-prozentiger Kriegsbeschädigung aus der deutschen Wehrmacht entlassen. Wegen der Erkrankung blieb er jedoch als Kriegsbeschädigter im Reservelazarett Eupen. Als die Alliierten sich Eupen näherten, wurde das Lazarett aufgelöst und mein Mann wurde am 14.8.44 nach Roetgen entlassen. Zur Zeit des Einmarsches der alliierten Streitkräfte befand er sich also in seinem Heimatort Roetgen. Wegen seiner Kriegsbeschädigung konnte die Familie meines Mannes nach der Besetzung durch die alliierten Streitkräfte im elterlichen Haus verbleiben. Im benachbarten Sägewerk, Karl Mathée an der Bundesstraße, waren viele amerikanische Soldaten untergebracht. Im Laufe der Zeit freundete sich mein Mann mit einem jungen Amerikaner an, dessen Vorfahren Deutsche waren. Er war 19 Jahre alt. Nach geraumer Zeit kam die Einheit des Jim Mason, so hieß der junge Amerikaner, zum Einsatz in den Hürtgenwald. Eines Tages erschien dieser Jim in Roetgen bei meinem Mann und erzählte ihm, er sei mit einem Kameraden davongelaufen. Sie hätten den fürchterlichen Beschuss nicht ausgehalten. Sie waren getrennt geflohen, wollten sich in Roetgen treffen und von dort gemeinsam in Richtung Südfrankreich fliehen. Die Zahl der Gefallenen auf beiden Seiten beweist, wie hart und grausam diese Kämpfe im Hürtgenwald waren. Ich habe auf der Hochzeit meines Bruders erlebt, dass einer seiner Freunde, der als Soldat im Hürtgenwald die Kämpfe erlebt hatte einen regelrechten Anfall von Depressionen bekam, weil dieser junge Mensch das Schlimme noch nicht verarbeitet hatte. Seinerzeit gab es für diese Geschädigten keinerlei Hilfe und ärztlichen Beistand wie heute. Es konnte sogar passieren, ich habe es erlebt, dass diese geschädigten jungen Menschen vom Staat, also Versorgungsamt, als Simulanten behandelt wurden. Auch das sollte heute nicht vergessen werden!!! Als dieser Jim in Roetgen erschien, versteckte mein Mann ihn im Heustall seines Elternhauses. Vierzehn Tage wartete "Jim" vergeblich auf seinen Kameraden. Der Vater meines Mannes war in Sorge, wenn die Amerikaner erfahren würden, dass der geflohene GI versteckt wurde, wäre das für alle sehr gefährlich gewesen. Deshalb setzte "Jim" seine Flucht nach 14 Tagen alleine fort. Wie und wohin, war meinem Mann nicht bekannt. Der Amerikaner wollte sich, wie er gesagt hatte, einen Jeep "organisieren" und dann in Richtung Frankreich weiter machen. Dies erfuhr ich und auch mein Sohn, Bernd, von meinem Mann.
Im April 1955 heirateten mein Mann und ich, und im Mai 1957 zogen wir nach Roetgen. Wir wohnten noch nicht lange im Haus, da erhielt mein Mann Post aus Amerika. Sein amerikanischer Freund Jim schrieb, dass er wohlbehalten aus dem Krieg in Korea nach Amerika zurückgekommen sei. Wie seine Flucht verlaufen, ob er vor Gericht gestanden oder ob er sich bei einer andern Einheit gemeldet hatte, darüber schrieb er nichts. Da er aber als Soldat im Koreakrieg gewesen war, musste er sich ja bei irgendeiner Truppe gemeldet haben. Es ist möglich, dass es auch bei der Amerikanischen Truppe etwas Ähnliches gab wie bei den Deutschen, die so genannte "Strafkompanie". Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass er aufgegriffen wurde und vor Gericht mit einem blauen Auge davongekommen ist. Der nun folgende Briefwechsel beschränkte sich auf Grüße und "es geht mir gut." Mein Mann wollte nicht fragen, wie die Flucht verlaufen war, weil er fürchtete, seinem Freund könnten dadurch Nachteile entstehen. Der letzte Brief meines Mannes aus 1980 blieb unbeantwortet und wurde auch nicht zurückgeschickt. Nachforschungen blieben ergebnislos. In Amerika gibt es angeblich so etwas wie Meldeämter nicht. Eines Abends, das müsste vor 1976 gewesen sein, sahen wir durch Zufall im Fernsehen eine Dokumentation über eine Amerikanische Kriegsgerichtsverhandlung, die in Roetgen im November 1944 stattgefunden hatte. In dieser Sendung wurde von einem amerikanischen Soldaten berichtet, der im Hürtgenwald desertiert, auf seiner Flucht aufgegriffen, in Rott eingesessen und in einem "öffentlichen" Gebäude in Roetgen von einem amerikanischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden sei. Das Urteil wurde am 31. Jan. 1945 in "St. Marie aux Mines" vollstreckt. Betont wurde in dieser Sendung, dies sei der einzige Fall in der amerikanischen Geschichte, (nach dem Sezessionskrieg) dass ein Todesurteil wegen Fahnenflucht vollstreckt wurde. Mein Mann sagte sofort: "Das ist der Kamerad von Jim, auf den er gewartet hat, und deshalb ist er damals nicht gekommen." Seit November 1976 war mein Mann, er war Beamter bei der Verwaltung Roetgen, pensioniert. In 1979 wurde er von der Verwaltung Roetgen angerufen. Dort war eine amerikanische Abordnung erschienen, bestehend aus dem Journalisten de Finis und Angehörigen des 1944 in Roetgen zum Tode Verurteilten, um Einzelheiten über die Gerichtsverhandlung in Erfahrung zu bringen. Da mein Mann das Kriegsende in Roetgen erlebt hatte, wurde er vom damaligen stellvertretenden Amtsdirektor Herrn Ernst Koch gebeten, mit dem Journalisten zu sprechen. Der Journalist hatte diesen Fall, nachdem in Amerika die Geheimhaltung der Akten aufgehoben war, aufgegriffen, die Akten eingesehen und photokopiert. Mit diesen Akten kam er zu uns. Er wollte von meinem Mann erfahren, was ihm über diese Angelegenheit bekannt sei. Er und die Mitglieder der Abordnung wollten dieses "öffentliche Gebäude" und den "Gerichtssaal", in dem das Gerichtsverfahren stattgefunden hatte, kennen lernen. Außerdem wollte der Journalist etwas über einen "Mitdeserteur" in Erfahrung bringen. Ich kann mich sehr gut an dieses Gespräch erinnern, weil ich dabei einen Fehler machte. Ich habe damals meinen Mann gefragt: "Willst Du nicht darüber sprechen?"
Da wurde der Journalist hellhörig und hat natürlich gefragt und gebohrt. Mein Mann erwiderte sehr energisch: "Darüber will ich nicht reden; ich will nicht im Nachhinein einem Menschen, mit dem ich befreundet bin, Schwierigkeiten bereiten." Mein Mann war befreundet mit seiner damals auch schon pensionierten Kollegin Adele Reinartz. Sie war, wie mein Mann Roetgenerin und Leiterin der Gemeindekasse Roetgen gewesen und kannte, wie mein Mann, die örtlichen Verhältnisse sehr gut. Beide überlegten intensiv, welches öffentliche Gebäude, als Gerichtsgebäude, gemeint sein könnte. Welches Gebäude und welcher Raum entsprachen der Beschreibung in den Akten? Beide kamen zu dem Ergebnis, es könnte nur eines in Betracht kommen und zwar das obere Zimmer im Anbau des alten Verwaltungsgebäudes (das Gebäude ist abgerissen worden). Die Angehörigen des Eddi Slowik, so hieß der zum Tode Verurteilte, und der Journalist haben sich das angesehen und fotografiert. Die photokopierten Akten verblieben bei der Verwaltung als Beweis und Erinnerung. Niemand in Roetgen wusste von dieser in der amerikanischen Geschichte einmaligen Gerichtsverhandlung und Vollstreckung des Urteils. Auf einer Zusammenkunft im Pfarrheim im September 1994 (50 Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner) wusste niemand der Anwesenden von dem Geschehen. Selbst Altpfarrer Heinen, er war zum Zeitpunkt des Kriegsendes einer der Ansprechpartner der Besatzungsmacht, wusste nichts darüber. Meine diesbezügliche Aussage wurde sogar von Anwesenden angezweifelt, was mich selbstverständlich nicht erfreut hat. Meine Bemühungen, beim Rundfunk eine Kassette über die Dokumentation, die wir gesehen und gehört hatten zu bekommen, waren erfolglos. Ich wusste leider nicht Tag und Datum der Sendung. Man verwies mich an die amerikanische Botschaft in Bonn. Ich war sehr erstaunt, als ich von dort gefragt wurde: "Was ist das, Hürtgenwaldkämpfe?" Offensichtlich waren die Bediensteten der Dienststelle über die Kämpfe der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg nicht informiert. Es war offensichtlich dort wie hier, die Jugend weiß herzlich wenig über die jüngste Geschichte. Dabei ist es ungeheuer wichtig zu wissen, wie es war und wie es dazu kommen konnte. Trotzdem hat sich diese Behörde in Bonn in der Sache bemüht, jedoch ohne Erfolg. Das alles sind nachweisbare Fakten. Die Fotokopie der Akte existiert noch und ich habe sie als Buch einbinden lassen und das besitze ich heute. Der Schriftsteller William Bradford Huie hat diese wahre Begebenheit zu einem Buch verarbeitet: "Der Fall des Soldaten Slowik". Außerdem hat Magnus Enzensberger in seinem Buch "Politik und Verbrechen" auch über diesen "Fall E. Slowik" berichtet. Selbst wenn man die damaligen außergewöhnlichen Umstände berücksichtigt, werden viele Fragen aufgeworfen, die heute nicht mit Sicherheit beantwortet werden können. Es kann nur darüber spekuliert werden. Eines jedoch lehrt uns diese Geschichte: "Die jungen Leute haben diese schlimmen Zeiten nicht kennen gelernt. Das Wissen darum und das Erinnern ist aber meines Erachtens notwendig, wenn man eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen will."