Geschichte(n) vom genagelten Stein
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Von Rolf J. Wilden
Wenn man dem Grölisbach im Westen von Roetgen bis in sein Quellgebiet am Vennhorn folgt, so findet man, wie an vielen Stellen in Roetgen, uralte, riesige Steine. Diese sind in der hiesigen Gegend als Vennwacken bekannt und wurden früher von der Bevölkerung auch als Findlinge bezeichnet. In unserem Ort, mitten auf dem Rücken des Stavelot-Venn-Massivs, sind diese Felsen petrologisch gesehen sog. Quarzite und von einem erstaunlichen Alter. Sie entstanden in einer Zeit, die in der Erdgeschichte mit Revin 3 oder Revin 4 bezeichnet wird. Das ist eine Zeitspanne im sog. Kambrium vor etwa 505 Millionen Jahren . An manchen Stellen in Roetgen tritt dieses Felsgestein massiv aus dem Untergrund hervor. An anderen Stellen liegen diese Felsen auf der heutigen Oberfläche herum, ohne eine feste Verbindung. So ist es auch an der Grölis. Wie kann denn nun ein "Bächlein" wie die Grölis solche gewaltigen Brocken transportieren? Von den Findlingen in der norddeutschen Tiefebene weiß man, dass die Gletscher in der letzten Eiszeit vor ca. 15000 Jahren diesen Transport übernahmen. Man weiß aber auch, dass die Gletscher das heutige Venngebiet damals nicht erreichten, weshalb es bei uns auch keine Findlinge im strengen Sinne gibt. Es gab aber in der letzten Eiszeit vor allem in den Quellgebieten der heutigen Vennbäche lokale Gletscherzungen, die durchaus in der Lage waren, das Gestein zu transportieren. Man kann das Ergebnis auch heute noch an vielen Stellen in der hiesigen Gegend beobachten, obwohl viel Gestein von unseren Vorfahren z.B. für den Straßenbau abtransportiert wurde.     Er kennzeichnete ursprünglich die Grenze zwischen dem Herzogtum Lim- burg, der Abtei Kornelimünster und dem Herzogtum Jülich. Zu diesem Zwecke waren in den Stein drei Nägel eingeschlagen - daher der Name. Die alte Karte  zeigt den Zustand um ca. 1400. Wann er genau zum Grenzstein wurde, ist z.Z. nicht bekannt. Bei Cosler, der im "Lexikon"  über ihn schreibt, wird erwähnt, dass die Landesregierung 1569 u.a. die Grenze "Am Stein" neu regulierte.  In einer Sammlung historischer "Weisthümer" wird der Stein mit der Jahreszahl 1600 erwähnt . In einer juristischen Sammlung, im Kapitel über Grenzen, von  Jacob Grimm heißt es an einer anderen Stelle: "… geheißen das markvenn, in demselben venn soll man finden (einen) reinen und genägelten stein" . Der Begriff Markvenn, für Venn an der Grenze, ist heute nicht mehr geläufig . Auf einer Roetgen-Karte  von 1807 kann man den späteren Grenzverlauf am "Genagelten Stein" Anfang des 19. Jahrhunderts studieren. Dank der französischen Eroberungen kennzeichnete der "Genagelte Stein" zu dieser Zeit aber nur noch einen Grenzpunkt zwischen dem Rur- und dem Maas-Departement (Spansch). Die Abtei Kornelimünster ebenso wie die Herzogtümer Jülich (bzw. die Nachfolger) und Limburg existierten nicht mehr als selbstständige politische Einheiten. Heute liegt der Grenzpunkt zu Belgien in dieser Gegend ca. 100m weiter im Westen und ebenfalls an der Grölis. Es ist der Grenzstein mit der Nummer 891. Man fragt sich natürlich unwillkürlich auch hier wieder: Warum ist dieser alte Grenzstein ein Naturdenkmal? Der Stein an sich ist nichts Besonderes in unserer Gegend, aber als Grenzstein mit Nägeln fällt er schon aus dem Rahmen. Dieses Merkmal jedoch hat nichts mit Natur, sondern schon eher etwas mit Kultur zu tun! Der Begriff Kulturdenkmal  ist natürlich in Deutschland detailliert definiert. Die Unterkategorie "Flurdenkmal" würde m.E. am besten auf unseren Stein passen. Also, liebe Gemeinde Roetgen, strengt euch an und sorgt für eine passende Einordnung des Denkmals - so viele haben wir nicht! Vielleicht hätte das ja auch Auswirkungen auf die Präsentationsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit, wenn man die Abgründe unseres Naturschutzgesetzes überwinden könnte. Will man den "Genagelten Stein" heute (2011) aufsuchen, so ist er kaum zu finden. Es fehlt jeder Hinweis auf seinen "Standort". Selbst die Nachbarn, die dort wohnen, wissen oft nicht, was da irgendwo bei ihnen im Gebüsch liegt. Dummerweise gibt es auch noch einen großen Vennwacken ganz in der Nähe, der bestimmt schon oft irrtümlich mit unserem Denkmal verwechselt wurde. Er liegt auf einer Flur direkt westlich des Weges "Zum genagelten Stein" mit dem Flurnamen "Reinartshof" . Doch darauf kommen wir später noch zurück. Der richtige Stein liegt jedoch ca. 50m östlich dieser Erschließungsstraße direkt an der Grölis. Er ist kaum zu sehen, völlig von Gesträuch zugewachsen und mit Laub bedeckt. Als Relikt aus früheren Tagen, als noch Kühe auf den umliegenden Wiesen grasten, ist er mit Stacheldraht von der Welt abgetrennt.     Auf dem Grundstück vor dem Stein hat man einen kleinen Teich angelegt, der wohl nur dazu dient, unaufmerksame Spa- ziergänger in die Falle zu locken: Also Vorsicht, rechts um den Teich herumgehen und nicht ins Wasser fallen! Wenn man dieses "Biotop" überwunden hat, erkennt man im Gras einen alten dreieckigen Grenzstein und direkt danach - hinter Stacheldraht - unser Denkmal.     Wenn man das welke Laub und den Dreck von Jahren von der Oberfläche des Steins entfernt und schon mal vorsichtig nach irgendwelchen Nägeln  fühlt, so wird man enttäuscht. Auf der nun notdürftig gesäuberten Oberseite ist leider kein Nagel mehr zu entdecken. Der Zahn der Zeit hat buchstäblich alles kulturell Interessante entfernt. Vielleicht könnte eine Magnetfeldmessung noch Eisenreste im Stein entdecken. Auch beim genauen Hinsehen ist es nicht möglich, die Stellen zu finden, wo einst die Nägel den alten Vennwacken zum Grenzstein machten. Wann der letzte Nagel verschwunden ist, kann man heute leider nicht mehr sagen. Einige Zeitzeugen behaupten, dass vor ca. 10 Jahren mindestens noch ein Nagel vorhanden war. Zum Glück haben einige unserer Vorfahren das Unglück kommen sehen und rechtzeitig Fotografien vom "Genagelten Stein" angefertigt. So wissen wir heute, wo die Nägel saßen und wie sie ausgesehen haben. Auf dem alten Foto  sind die drei Nägel deutlich zu erkennen (Kreise). Der Stein sieht nicht so "vergammelt" aus wie heute, und der Stacheldraht hatte damals wahrscheinlich sogar einen Sinn.     Es erhebt sich natürlich sofort die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, wenigstens die Stellen, wo einmal die Nägel waren, nach einer eingehenden Untersuchung zu markieren und so für die Nachwelt den Sinn des Denkmals zu bewahren. Ansonsten muss man sich weiter fragen: Was soll dieses Denkmal ohne sein wichtigstes Attribut? Eigentlich wäre es sogar notwendig, die fehlenden Nägel zu ersetzen und so das Flurdenkmal "Genagelter Stein" für die Nachwelt zu erhalten! Es reicht einfach nicht aus, ein künstliches Biotop zu errichten und den Rest der Natur zu überlassen. Neben der geologischen und politisch-geographischen Geschichte unseres Denkmals gibt es natürlich auch einen soziologischen Aspekt. Ich komme zurück auf den schon erwähnten Flurnamen "Reinartshof". Er ist leicht zu verwechseln mit "Reinartzhof" im Venn. Der Unterschied in der Schreibweise ist dabei nicht so wichtig, da diese Art von Verschiedenheit meist durch die Unachtsamkeit der Chronisten hervorgerufen wurde. Über die Familie Reinartz gibt es eine Verbindung zwischen dem Reinartzhof im Venn und dem Reinartshof am "Genageltem Stein". Im Türbalken des ersten Hauses am Stein war die Zahl 1642 eingeschnitzt. Der Erbauer ist unbekannt. Im Jahre 1665 war ein Jacobus Reinartz (*1643) Siedler im 1. Haus am "Genageltem Stein". Diese Geschichte erfährt man ausführlich in der Familien- Chronik Reinartz . Um 1750 wohnte ein Nikolaus Reinartz in diesem Haus. Aus dieser Zeit stammt die Flurbezeichnung "Reinartshof". Es gab ein zweites Haus auf der Flur "Reinartshof". Dieses Haus wurde eine Generation später gebaut. Von 1808-1809, in der "Franzosenzeit", führte der damalige Eigentümer des 1. Hauses am Stein - Johann Gerhard Reinartz - einen Prozess gegen die französische Verwaltung wegen der Trasse der Trierer Landstraße. Sein damals schon altes Haus war im Wege. Er gewann den Prozess, und das Haus blieb stehen.     Neben meiner familiären Verbindung zum Haus am Stein über die Familie Reinartz gibt es eine weitere über die Familie Wilden. In der Familien- Chronik Wilden  gibt es einige herzzerreißende Geschichten über meine Vorfahren am Stein: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gasthaus "Zum Genagelten Stein" von Johann Josef Förster und seiner Frau Anna geb. Offermann betrieben. Wie es dort zuging, wird in einem Aufsatz beschrieben, den mein Großvater Josef Wilden 1973 geschrieben hat. Zum gleichen Thema gibt es eine Niederschrift meiner Mutter Maria Wilden geb. Reinartz . Eines der Kinder von Anna Offermann und Johann Josef Förster war meine Urgroßmutter Josefine Förster (siehe Bild). Sie war ein Kind von damals wohlhabenden Leuten. Als sie meinen Urgroßvater Gabriel Wilden kennen lernte, war das eine Kata- strophe für die Eltern, da der Schwiegersohn in spe nur ein Tagelöhner war, was im Übrigen damals wohl öfters vorkam. Die jungen Leute heirateten gegen den Willen ihrer Eltern, was auf dem Dorf ein großes Drama war. Als dann der erste Enkel geboren wurde, hielt die "böse Schwiegermutter" das Zerwürfnis nicht mehr aus, und es wurde Versöhnung gefeiert.     Es gibt eine weitere fesselnde Geschichte von meiner Urgroßmutter Josefine, die die rauen Verhältnisse auf dem Lande und in unserem Dorf Roetgen damals sehr schön widerspiegelt: Im Garten am Stein stand in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein prächtiger  Kirschbaum. Als die Zeit für die Kirschenernte nahte, sah Josefine eines Tages einen ihr nicht bekannten Korb unter dem Kirschbaum stehen. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie einen fremden Mann im Kirschbaum, der fleißig die Früchte pflückte und sie von Zeit zu Zeit in dem Korb deponierte. Was machte eine Frau damals in so einem Fall? Sie rief nicht etwa die Polizei - wie auch, sondern sie holte sich Vaters Schrotflinte, lud sie mit Hasenpfeffer  und - wartete. Als der Dieb den Korb gut gefüllt hatte, schoss sie ihn vom Baum. Der ergriff schreiend und mit letzter Kraft die Flucht. In der Familien-Chronik steht: Mutter freute sich über den schönen Korb und die vielen reifen Kirschen.     Die Betreiber der Gastwirtschaft "Zum Genagelten Stein" wechselten mit den Generationen. Es gibt ein sehr informatives Bild aus der Zeit des 1. Weltkrieges (1915). Es zeigt verlegte Eisenbahnschienen auf dem "Harten Wege" vor dem Gasthaus und einen Zug mit Soldaten darauf. Roetgen war in dieser Zeit ein Verladebahnhof des Deutschen Militärs. Von hier aus wurden die Soldaten an die Front gebracht. Hinter den Gleisen war damals ein ganzes Versorgungslager für die Soldaten aufgebaut worden.     1973 wiederholte sich, was 1809 noch abgewendet werden konnte. Nach langem Kampf gegen die Behörden wurde das alte Haus "Zum genagelten Stein" schließlich abgerissen. Es musste einer Erweiterung der B258 weichen. Etwas weiter entfernt von der Bundesstraße wurde ein neues Haus gebaut - das Hotel "Zum genagelten Stein". Dieses Haus wurde zumindest einmal umgebaut, aber doch letztendlich aufgegeben. Heute erinnern nur noch die Flurbezeichnung und die Erschließungsstraße im Gewerbegebiet an diesen einst lebendigen Teil der Roetgener Dorfgeschichte. Unser Dorf- Chronist Cosler erinnert uns daran, dass einmal die Hausnummern in Roetgen hier ihren Anfang nahmen  - aber auch das wurde natürlich inzwischen anders geregelt. Der alte Vennwacken selbst ist zwar noch vorhanden, hat aber heute keinerlei Bedeutung mehr. Als Naturdenkmal ist er völlig ohne Sinn! Wie schon dargelegt, könnte man ihm aber vielleicht als Kulturdenkmal wieder neues Leben einhauchen.     In den "Heimatblättern des Kreises Aachen" von 1998  schreibt der Autor Marenberg u.a. über den "Genagelten Stein": "…; den Besuch dieses ND kann man sich (er-)sparen." Diese negative Aussage hatte m.E. zwei Ursachen: Einmal war der Autor sauer auf einen Grundstückseigentümer, der ihm den Zutritt zum Denkmal verwehrte, zum andern konnte er in dem alten Vennwacken kein Naturdenkmal erkennen. Nach allem, was hier niedergeschrieben wurde, ist der "Genagelte Stein" ein Denkmal der Geschichte, und zwar sehr wahrscheinlich einer der ältesten Zeugen menschlicher Aktivitäten in Roetgen.