Schulstreik - ein Rückblick
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Zusammengestellt von Rolf J. Wilden
In Heft 7/2012 der "Roetgener Blätter" berichtete Richard Reinartz als Teilnehmer über den Schulstreik, der am 23. Juni 1953 von der "Oberklasse Jungen" an der "Kath. Volksschule Roetgen" inszeniert wurde. Was war passiert? Wegen der Schulraumnot bis 1953 - es standen nur vier Klassenräume für alle Schüler zur Verfügung - wurde die Schule im Schichtbetrieb abgehalten. Das war für Schüler und Lehrer sicher keine angenehme Situation. Insbesondere die "Oberklasse Jungen" musste zweimal wöchentlich am Nachmittag erscheinen. Die "Mädchen Oberklasse" hatte es da besser; sie hatte immer nur morgens Unterricht. Ob das nun an den Privilegien ihrer Klassenlehrerin Frl. Wynands lag (die auch Schulleiterin war) oder ob auch damals schon Mädchen in der Schule bevorzugt behandelt wurden (Jungens sind halt schwieriger), kann man heute nicht mehr sagen. Als dann die Gemeinde Roetgen 1951 beschloss, die Schule zu erweitern, waren alle sehr froh. Nachdem dann die neuen Klassenräume Ende 1952 fertig wurden, freuten alle sich auf die bevorstehende Einweihung und Benutzung - doch nichts passierte. Niemand wusste, was los war. Man sprach von technischen und finanziellen Schwierigkeiten, obwohl jeder sehen konnte, dass alles in den neuen Klassenräumen zum Unterricht bereit war. In dieser Situation ergriff nun die "Oberklasse Jungen" die Initiative. Sie organisierte einen Protestzug und zog mit Transparenten vom Sportplatz zur Schule. Ob diese Idee nun ihre eigene war oder ob ihr Klassenlehrer H. Roder "nachgeholfen" hatte, ist bis heute umstritten. Jedenfalls hatten die Roetgener "Halbstarken" ihre Lektionen in Demokratie sehr wohl begriffen. Was nun folgte, ist sicher kein Ruhmesblatt für die damalige Gemeinde- und Schulverwaltung. Es zeigte sich ganz klar, dass die Verantwortlichen nichts von dem begriffen hatten, was sie seit dem Kriegsende ihren Kindern beibringen mussten. Die Gemeindeverwaltung ließ die 33 Schüler, die an der Demonstration teilgenommen hatten, durch die Polizei verhören. Die Schulverwaltung beschuldigte den Klassenlehrer H. Roder der Anstiftung und versuchte ein Geständnis zu erpressen; was nicht gelang. Der damalige Bürgermeister Linzenich erkannte wohl die völlig verfahrene Situation und bot seinen Rücktritt an; der erfolgte jedoch nicht. Obwohl Lehrer Roder seine Unschuld beteuerte, wurde er zum Leidwesen aller schließlich versetzt. Bemerkenswert ist auch die völlige Ignorierung der Interessen der Schulpflegschaft durch die Behörden. Durch unsere Leser, die uns Presseberichte und Niederschriften über dieses Ereignis zur Verfügung gestellt haben, ist es möglich, den damaligen Ablauf nochmal lebendig werden zu lassen. Am 02.07.1953 schrieben die "Aachener Nachrichten": Roetgens Schuljugend demonstrierte Der Protestmarsch der Kinder zog weite Kreise - In allernächster Zeit soll die neue Schule eingeweiht werden. Roetgen - Einen nicht alltäglichen Protestmarsch hatten die Einwohner der Ortschaft Roetgen am Dienstag, 23. Juni, erlebt. Wie wir in der vergangenen Woche bereits kurz berichteten, hatten sich etwa 25 Schulkinder entschlossen, einen Protestmarsch durch den Ort durchzuführen. Die Kinder - es handelte sich bei ihnen um die Oberklasse Jungen der Volksschule Roetgen - hatten für diesen Demonstrationszug ein sehr konkretes Anliegen. Sie waren nämlich bisher sozusagen in zwei Schichten unterrichtet worden, weil in den alten Klassenräumen für so viele Kinder kein Platz war. Vom Sportplatz zur Schule Die Kinder hatten schon immer den Bau einer neuen, stattlichen Schule in Roetgen mit verständlichem Interesse verfolgt. Sie hatten eingesehen, dass ein geordneter Schulbetrieb erst wieder möglich sein werde, wenn die neue Schule fertiggestellt und ihrer Bestimmung übergeben worden sei. Die Schuljugend Roetgens sehnte deshalb den Tag der Einweihung der neuen Schule von ganzem Herzen herbei. In der neuen Schule würde Platz für alle sein; da brauchte dann nicht eine Hälfte nachmittags zum Unterricht anzutreten; dann würden der Nachmittag - natürlich erst nach Erledigung der Schulaufgaben - den Kindern gehören. So und ähnlich wird die Schuljugend überlegt haben. Wer von den heute Erwachsenen würde nicht ähnliche Überlegungen angestellt haben? Als die Kinder dann aber feststellen mussten, dass die nach ihrer Meinung fix und fertige Schule immer noch nicht eingeweiht wurde, beschlossen sie eben jenen Demonstrationsmarsch vom Sportplatz zur Schule, um auf diese Weise gegen die ihnen unverständliche Verzögerung zu protestieren. Gute Schüler der Demokratie  Man sieht, dass Roetgens männliche Schuljugend von der Praxis der Demokratie schon allerhand gelernt hat. Im Übrigen verlief der Marsch der Kinder äußerst diszipliniert. Soviel wir festgestellt haben, benutzten sie bei ihrem Marsch zur Schule nur die Bürgersteige. Sie waren sogar sorgsam bemüht, die öffentliche Ordnung in keiner Weise zu stören. In den nachfolgenden Tagen zog das Roetgener Ereignis dann weitere Kreise. Die Presse berichtete von diesem Akt der Selbsthilfe in durchaus wohlwollender Weise. Sogar der NWDR brachte in seiner Sendung "Zwischen Rhein und Weser" einige heiter-ernste Bemerkungen zu dem Marsch der Schulkinder. In Roetgen selbst und auch anderenorts aber schmunzelte man im allgemeinen verständnisvoll über diesen Einfall und darüber, dass die Kinder sich so nachdrücklich darum bemüht hatten, in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Eine Lektion Die Eltern der Schulkinder aber sagten sich, dass ihnen von ihren Kindern hier gewissermaßen eine Lektion erteilt worden war. Was die Kinder durchgeführt und angestrebt hatten, das hätte eigentlich von den älteren Generationen, denen die Erziehung der Jugend nun einmal obliegt, durchgeführt werden müssen. Amtsbürgermeister Linzenich hatte nämlich im Februar dieses Jahres schon erklärt, dass die Schule unmittelbar nach Ostern eingeweiht werde, und dass dann ein geregelter Schulbetrieb möglich sei. Die Schulpflegschaft war mit dieser Auskunft zufrieden gewesen. Aber es wurde Ostern und Pfingsten und die Kinder wurden noch immer in zwei Schichten unterrichtet. Allerorts hielt sich indes hartnäckig das Gerücht, die neue Schule sei fertig, harre nur noch ihrer Einweihung. Ein Sündenbock? In diese Situation hinein platzte wie ein Knallkörper der Protestmarsch der Jungen. Wie gesagt, alle Welt lachte über diesen Akt der Selbsthilfe, nur am Ort der Handlung begannen einige Gemüter zu glühen. Der Explosionsknall blieb dann auch nicht aus. Mit Befremden mussten die Eltern der Jungen kurze Zeit nach dem Marsch ihrer Kinder erfahren, dass die Jungen während des Unterrichtes in Gegenwart von Vertretern der Verwaltung und der Gemeindevertretung durch die Polizei vernommen worden waren. Sofort wurde eine Besprechung der Schulpflegschaft einberufen. Hier wurde klargestellt, dass das Eingreifen der Polizei nicht zu billigen sei. Eine strafbare Handlung liege nicht vor, und dass die Polizei auf diese Art eine Klärung der "Hintergründe" versuche, sei unverständlich. Am Freitag vergangener Woche kam die Schulpflegschaft erneut zusammen. Wie nunmehr bekannt geworden war, sollte der Lehrer der Oberklasse Jungen, Roder, im Zusammenhang mit dem Demonstrationsmarsch versetzt werden. Lehrer Roder versicherte indes wiederholt, dass er von dem Marsch der Jungen nichts gewusst habe, und dass er ihn nie gebilligt hätte. Der Lehrer erklärte weiter, dass er nur gehört habe, die Jungen wollten nachmittags nicht mehr zur Schule kommen. Diese Einlassung haben auch die Schulkinder, soweit es uns bekannt ist, bei ihrer Vernehmung durch die Polizei bestätigt. Für Sonntag, 28. Juni, war dann eine Elternversammlung einberufen worden, an der alle Eltern der Jungen der Oberklasse teilnehmen sollten. Im Verlaufe dieser Elternversammlung legte zunächst die Schulleiterin ihren Standpunkt zu den Ereignissen dar. Sie erklärte, dass es ihre Pflicht sei, die Amtsverwaltung und die vorgesetzte Dienststelle von den Vorkommnissen in Roetgen in Kenntnis zu setzen. Es bestehe der Verdacht, dass Lehrer Roder als Klassenlehrer von dem Vorhaben der Jungen gewusst habe. Lehrer Roder erklärte, dass er über den Demonstrationszug nicht unterrichtet gewesen sei, und dass er ihn, falls er informiert worden wäre, niemals geduldet hätte. Energische Proteste Im weiteren Verlauf der Elternversammlung ergriff dann auch Amtsbürgermeister Linzenich das Wort. Er gab zunächst einen Rückblick auf die Entwicklung des Schulneubaus und führte die Schwierigkeiten an, die sich beim Bau ergaben. Für diese Argumente zeigten die Eltern volles Verständnis. Der Amtsbürgermeister stellte weiter fest, dass er die Vernehmung der Schulkinder durch die Polizei veranlasst habe. Anschließend sprachen sich die Eltern in spontanen Stellungnahmen für den Lehrer Roder aus, der sich bei den Schulkindern wie bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreut. Es wurde darauf hingewiesen, dass es für die Ausbildung der Kinder von großem Nachteil sei, wenn das Lehrpersonal dauernd wechsele. Mit großer Mehrheit sprachen sich die Eltern dann dafür aus, die Aufsichtsbehörde durch die Schulpflegschaft über die Verhältnisse in Roetgen zu unterrichten. Es war unverkennbar, dass die Eltern es nicht dulden würden, wenn Lehrer Roder als Sündenbock hingestellt werde und vielleicht sogar versetzt werde. Einweihung in nächster Zeit Von Seiten der Schulpflegschaft wurde sogar gewünscht, dass die Einweihung der neuen Schule nach den jüngsten Ereignissen nicht überstürzt erfolgen solle, sondern in der üblichen Form, verbunden mit einer Feierstunde, durchgeführt werden soll. Für alle Schwierigkeiten, so argumentiert die Schulpflegschaft, die beim Bau der Schule in finanzieller und technischer Hinsicht entstanden, habe man Verständnis. Andererseits müsse man aber dann auch das Verhalten der Kinder verstehen, und auf keinen Fall dürfe es so weit kommen, dass Lehrer Roder nun der Prügelknabe sei. Die Schulpflegschaft sieht also ihre primäre Aufgabe darin, den Lehrer vor den Folgen der Ereignisse zu bewahren, die er nicht verursachte. Wie uns Amtsdirektor Barth erklärte, wird mit der Einweihung der Schule in allernächster Zeit zu rechnen sein. Die letzten Arbeiten werden in diesen Tagen ausgeführt. Es bleibt zu hoffen, dass dann Frieden und Einmütigkeit wieder in Ort und Schule einziehen. Am 09.07.1953 erschien dann folgender Artikel in den "Aachener Nachrichten" In aller Stille eingesegnet Neue Volksschule in Roetgen wurde für den Unterricht freigegeben Roetgen. - Die neue Volksschule in Roetgen ist, wie wir erfahren, am vergangenen Dienstag, dem 7. Juli, eingesegnet worden. Nachdem Pastor Heinen das Gebäude gesegnet hatte, konnte der Unterricht aufgenommen werden. Leider sind wir trotz wiederholter Anfragen bei der Amtsverwaltung Roetgen über den Einweihungstermin nicht unterrichtet worden, so dass wir keinen ausführlichen Bericht über die feierliche Handlung geben können. Die Einsegnung sei deshalb in aller Stille vorgenommen worden, weil sich um den Schulneubau in letzter Zeit so unerquickliche Dinge zugetragen hätten, wurde uns mitgeteilt. Mit der Roetgener Schuljugend freut sich die gesamte Bevölkerung des Ortes darüber, dass die Zeit, da die Kinder in zwei Schichten unterrichtet werden mussten, nun endgültig vorüber ist. Dennoch muß festgestellt werden, dass es der Wunsch der Schulpflegschaft und darüber hinaus der bedeutenden Mehrzahl der Roetgener Bevölkerung war, dass die Schule durch einen Festakt mit dem entsprechend feierlichen Rahmen eingeweiht werde. Die Bevölkerung verlangte kein Volksfest mit riesigen Ausgaben, aber sie wünschte doch, dass dieses freudige Ereignis in der angemessenen Form gefeiert werde. Ausdrücklich hatte die Schulpflegschaft sogar darauf bestanden, dass auch die Einweihung der Roetgener Schule in einem dem Anlass entsprechenden Rahmen vorgenommen werden soll. Wenn nun dieser Forderung nicht entsprochen wurde, so bleibt dennoch die Freude darüber, dass sich die Roetgener Schuljugend nun eines geordneten Schulbetriebes erfreuen kann. Es ist hinlänglich bekannt, dass sich bei der Erstellung eines größeren Projektes immer Schwierigkeiten ergeben, die die Vollendung des Vorhabens verzögern. Schwierigkeiten blieben auch beim Bau der Roetgener Schule nicht erspart. Den verantwortlichen Mitgliedern von Vertretung und Verwaltung, aber auch dem Architekten, den Bauherrn, Handwerkern und Arbeitern und allen, die an dem Neubau mitschufen, gebührt für ihre Arbeit Dank. Sicher werden sich die Wogen der Erregung, die durch den demokratischen Selbsthilfeakt der 33 Roetgener Jungen aufgeworfen wurden, nun bald wieder glätten. Schließlich sollte die kirchliche Einsegnung der neuen Schule wieder daran erinnern, welche hohe Aufgabe es ist, Kinder für das Leben zu formen. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, wird die neue Schule ein fruchtbares Hilfsmittel sein. Am 11.07.1953 erschien dann noch folgender Artikel in den "Aachener Nachrichten: Schuljugend hatte hohen Besuch Regierungsdirektor Dr. Deutzmann bei den Jungen der Oberklasse Roetgen Roetgen - In den letzten Tagen ist in der Roetgener Bevölkerung über die so plötzlich erfolgte Einsegnung der neuen Volksschule überaus lebhaft, ja zum Teil sehr erregt, debattiert worden. In Gesprächen mit Ortsbewohnern konnten wir uns davon überzeugen, dass die Bevölkerung für die Aufnahme des Schulbetriebes ohne jegliche Feierlichkeit kein Verständnis hat. Die Eltern weisen darauf hin, dass man wenigstens für die Kinder die Übernahme der neuen Schule zu einer würdigen Feier hätte gestalten können. Wenn wir uns in diesem Zusammenhang der vor einigen Wochen erfolgten Einweihung der neuen Schule in Lammersdorf erinnern, so können wir dazu nur erklären, dass die Einstellung der Eltern begründet ist. In Lammersdorf erlebten die Schulkinder, wie nach Jahren des mühevollen Aufbaues ihre Schule eingeweiht wurde. Sicher wird das gerade für die Kinder zu einem nachhaltigen Erlebnis geworden sein, an das sie noch gerne und lange zurückdenken werden. Dass sich die Lammersdorfer Jugend der Bedeutung dieses Ereignisses, das die Einweihung einer neuen Schule für einen Ort darstellt, bewusst war, konnte man aus dem Eifer und der Hingabe ersehen, mit dem die Kinder ihre Prologe, Gedichte und Lieder für diese Feier vorbereitet hatten. Als der Amtsbürgermeister den Kindern dann auch noch versprach, dass sie aus Anlass des festlichen Tages und als Anerkennung für ihre fleißige Arbeit Schokolade erhielten, war die Freude übergroß. Genauso hätte es eigentlich auch in Roetgen sein können. Wenn ein Projekt schon viele tausend DM kostet, so dürften auch die geringen Mittel, die erforderlich sind, der Schuljugend eine kleine Freude zu machen, die Unkosten nicht erheblich steigern. Am Morgen vor der Einweihung der neuen Roetgener Schule war Regierungsdirektor Dr. Deutzmann aus Aachen nach Roetgen gekommen. Fast eine Stunde lang hatte er sich mit den Jungen, die vor einigen Wochen den Demonstrationsmarsch durchgeführt hatten, in überaus freundschaftlicher Weise unterhalten. Der Regierungsdirektor hatte sich mit den Jungen über die Protestaktionen in Nörvenich und anderen deutschen Städten unterhalten Und im Verlaufe seiner Ausführungen erklärt, dass auch die Roetgener Schuljugend keine böse Absicht gehabt habe. Am Nachmittag des gleichen Tages, an dem Regierungsdirektor Dr. Deutzmann die Oberklasse der Jungen besucht hatte, war die neue Schule eingesegnet worden. Außer der Schulleiterin war kein Mitglied der Lehrerschaft darüber unterrichtet worden. Die Bevölkerung war sehr überrascht, als sie später erfahren musste, dass der Unterricht in der neuen Volksschule auf-genommen worden war. Wie in der Öffentlichkeit bekannt geworden war, hatte Amtsbürgermeister Linzenich im Verlaufe der Versammlungen und Besprechungen, die durch den Marsch der Jungen ausgelöst worden waren, die Absicht geäußert, er werde zurücktreten. Dieses Vorhaben hat er jetzt revidiert, nachdem der Gemeinderat ihm zugesichert hat, dass er geschlossen hinter dem Bürgermeister steht. Unser Leserbrief: Berichtigung Es waren 33 jugendliche Demonstranten. "Wir wollen Sie hierdurch in Kenntnis setzen, dass nicht, wie Sie berichteten, bei unserem Demonstrationszug, den wir am 23. 6. durchgeführt haben, 25 sondern 33 Jungen der Knabenoberklasse beteiligt waren." Knabenoberklasse Roetgen Das weitaus interessanteste Dokument, was wir zum Thema "Schulstreik in Roetgen" erhielten, ist eine anonyme Niederschrift eines Beteiligten aus der Lehrerschaft. Obwohl eigentlich ziemlich klar wird, wer der Verfasser ist, wollen wir seinen Wunsch, nicht benannt zu werden, auch nach so vielen Jahren noch, respektieren. Lesen sie also den Aufsatz "Demokratieverständnis in Roetgen 1953". Demokratieverständnis in Roetgen 1953 Verfasser anonym In der katholischen Volksschule Roetgen in der Eifel waren seit 1948 nicht genügend Klassenräume vorhanden. Der Unterricht wurde daher in Schichten abgehalten. Davon war besonders die Knabenoberklasse betroffen, die bisher an zwei Nachmittagen der Woche Unterricht von 13.00 bis 18.00 Uhr hatte. Gegen die Anordnung von Frau Wynands, diesen Zustand auf drei Nachmittage zu erhöhen, nahmen die Eltern der betroffenen Schüler Stellung. Daraufhin blieb es bei zwei Nachmittagen für die Jungen, während die Mädchen der Oberklasse jetzt auch einmal nachmittags kamen. Frau Wynands berief sich darauf, dass sie als Hauptlehrerin keinen Nachmittagsunterricht erteilen müsse. (Damals mussten Mädchen und Jungen vom fünften Schuljahr an getrennt unterrichtet werden, auch wenn dadurch vier Jahrgänge in einer Klasse zusammengefasst wurden). Mit großer Freude wurde daher der Beginn eines schon lange geplanten Erweiterungsbaus begrüßt. Der erste Termin für die Fertigstellung des Rohbaus war der 15. November 1950. Nach längeren Verzögerungen wurde für die Einweihung des neuen Schulgebäudes von der Bauleitung der 1. November 1952 genannt. Immer wieder hatten die Schüler seitdem gefragt, warum sie nicht in den neuen Gebäudetrakt umziehen könnten, der doch schon längst fertig sei. In den Pfingstferien, die bis zum 6. Juni 1953 dauerten, wurden neue Möbel in die Schule gebracht. Vor den schönen neuen Tafeln lag sogar ein Stück Kreide bereit. Aber auf die verständliche Frage, warum man noch nicht umziehen konnte, erhielten weder Schüler noch Eltern eine Antwort. Dann meinten die Jungen, ob sie nicht streiken könnten. Der Klassenlehrer versuchte ihnen zu erklären, dass dies nur bei einem Arbeitsverhältnis möglich sei. Sie ließen aber nicht locker und hefteten an ihren Aushang in der Klasse einen Zeitungsausschnitt über eine Protestveranstaltung. Weil diese aber gar nicht mit den örtlichen Problemen zu vergleichen war, warf der Lehrer den Ausschnitt in den Papierkorb. Aber am nächsten Tag hing der Zettel wieder an der gleichen Stelle, so dass er nicht umhinkam, das Thema erneut anzuschneiden. Er blieb jedoch bei seiner Ablehnung gegenüber der erwähnten Protestaktion. Am Morgen des 24. Juni 1953 erschienen 33 Schüler vor der Wohnung des Klassenlehrers. Sie hatten sich auf dem Sportplatz versammelt und trugen selbstgemachte Pappschilder mit Aufschriften "Wir wollen in die neue Schule". Damit waren sie ruhig und diszipliniert über die Hauptstraße gezogen. Sie trugen dem Lehrer ihre Absichten vor. Er erwiderte, dass er dazu keine Befugnis hätte und verwies sie an die Schulleiterin "Fräulein" Wynands, die die Gruppe an ihrer Klassenzimmertüre mit Entsetzen in Empfang nahm. Sie ergriff mit beiden Armen die Schilder und beschimpfte die mutigen Jungen als "Saubande" und "kommunistische Jugend". Auf die Frage "Wollt ihr Ohrfeigen haben?" antwortete der Klassensprecher: "Nein, wir wollen in die neue Klasse". Der Klassenlehrer kam aus der Wohnung neben dem Schulhaus und bat die Gruppe, die noch vor dem Bürgermeisteramt protestierten wollte, ruhig nach Hause zu gehen. Das geschah auch. Gleich danach kam es zwischen Frau Wynands, den Kollegen Herrn Wynands (beide nicht verwandt) und Herrn Roder zu einer Aussprache. Weder ihm noch dem Kollegen gelang es, die Schulleiterin zu bewegen, die Angelegenheit von der heiteren Seite zu sehen. Sie zeigte sich dagegen sehr erregt und nannte die Jungen "unerzogene Bande", "freche, verlogene Gesellschaft" und "wie kommunistische Jugend". Sie erklärte, dass sie die Vorkommnisse "an die maßgebliche Stelle" melden würde und dass der Schuldige, den sie im Klassenlehrer sehe, festgestellt werde. Sie begab sich gleich danach zur Amtsverwaltung und informierte auch die Schulrätin Frau Dr. Lütgenau telefonisch. Die Schulleiterin selbst besaß wie damals üblich weder ein Büro noch ein Telefon. Beim Nachmittagsunterricht desselben Tages klopfte der Polizeibeamte Ehrig während des Unterrichts an der Tür des Klassenzimmers und verlangte nach den "Teilnehmern des Festzuges". Daraufhin standen alle Schüler auf. Die Polizeistation befand sich gleich gegenüber der Schule. Dorthin nahm Herr Ehrig einen Schüler mit, dem dann abwechselnd 11 weitere folgten. In der Klasse berichtete jeder vom Verhör, das von zwei Polizeibeamten, dem Amtsdirektor Barth und dem Bürgermeister Linzenich geführt wurde. Die Jungen berichteten nach der Rückkehr in die Klasse, dass sie alle gedrängt wurden zu bestätigen, dass die Protestaktion vom Klassenlehrer ausgegangen war. Mit jedem Rückkehrer stieg die Stimmung in der Klasse, bis dann der Bürgermeister gesagt hatte: "Von euch kriegt man ja überhaupt nichts raus!". Die Vernehmung war im Auftrag der Amtsverwaltung erfolgt. Am nächsten Morgen folgte eine weitere Vernehmung von neun Jungen durch die Schulrätin Frau Dr. Lütgenau. Währenddessen musste sich der Klassenlehrer zwei Stunden lang in einem leeren Raum aufhalten, der als Lehrmittelzimmer des neuen Schultrakts vorgesehen war. Zwei Kinderstühle wurden ihm als Sitzgelegenheit zur Verfügung gestellt. Anschließend wurde er zweimal verhört und die zweite Version zu Protokoll gegeben. Auch die Schulrätin insistierte immer wieder, der Lehrer stecke hinter der ganzen Aktion. Der verneinte dies, sagte aber deutlich, dass seine Sympathie ganz hinter den Jungen stehe und er für ihr Vorgehen volles Verständnis habe. Die Frau Schulrätin erklärte dann, sie müsse die Angelegenheit zur Entscheidung weiter geben. Am 30. Juni richtete der Klassensprecher im Auftrag der Knabenoberklasse ein Schreiben an die Schulleiterin Frau Wynands: "Wir haben durch unsern kleinen Demonstrationszug das ganze Dorf in Aufregung gebracht. Es war nicht unsere Absicht, Sie zu kränken. Wir bitten Sie höflichst um Entschuldigung." Nachdem die Schüler eine Berichtigung an die Zeitung übermittelt hatte, das nicht 25 sondern 33 von ihnen teilgenommen hatten und ihr Schreiben veröffentlicht wurde, sprach sogar der katholische Pfarrer, Pastor Heinen, auf dem Predigtstuhl von "der heutigen dreisten Jugend". Auf einem Elternabend ging es in Anwesenheit des Bürgermeisters heiß her. Die Schulleiterin war nicht erschienen, nur der Klassenlehrer. Ein Beitrag eines Vaters war kennzeichnend für den gesamten Verlauf: "Hujo (der Bürgermeister), wenn du dobei gewäßt wörst, du hätts et jrüßte Scheeld jedraare!" Anfang Juli hatte die Jungen-Oberklasse hohen Besuch: Regierungsdirektor Dr. Deutzmann, Leiter der Schulabteilung der Bezirksregierung in Aachen. Er sprach längere Zeit freundlich mit den Jungen, ohne dass der Klassenlehrer den Raum verlassen musste. Er riet ihnen, in Zukunft derartige Unternehmungen den Eltern zu überlassen. Sich verabschiedend meinte er dann gegenüber dem Klassenlehrer: "Gehen Sie weiter Ihren Weg". Am nächsten Tag huschten Schulleiterin und Pastor durch die neuen Räume. Das war die Einweihung; denn am darauffolgenden Tag fand der heiß ersehnte Umzug statt. Verständlich dass die Teilnehmer an der Demonstration daraus den Schluss zogen: "Das haben wir zu Stande gebracht!".  
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