Erster Brief:                                                                      Roetgen, den 25. September 1864

 


Werthester Freund!

 

   Da ich mit diesem Briefe, geliebter Freund, nicht wie ich zu Anfang glaubte, an einem Abend fertiggeworden bin, so habe ich einen zweiten Abend hinzu genommen und werden vielleicht auch noch einen Dritten gebrauchen müssen, ehe derselbe ganz fertig geschrieben ist. Auch habe ich mich in Annahme der Zeit, die ich mir zur Vollendung der ganzen Beschreibung vorgestellt hatte, sehr geirrt. Ich glaubte nämlich, die ganze Arbeit an drei, vier Abende fertig zu bringen; der Stoff dehnt sich aber während der Arbeit dergestalt aus, daß ich sehe, ich werde viel mehr Zeit nötig haben. Es thut aber nichts, ich werde mein gegebenes Versprechen doch erfüllen, wenn auch nur vor und nach in mehreren Briefen. Ich hoffe, daß Du nur so viel Geduld hast, dasjenige zu lesen, was ich dummer Monscheuer Dir über mein geschätztes, wenn auch vielfach von anderen verachtetes Vaterland mittheile, und ich werde dann fortfahren, alle meine Kräfte anzuwenden, um für Dich die Sache anziehend zu machen, wie folgt:

   Wenn man von Imgenbroich nach Montjoie den alten Weg benutzt, so tritt man an der Ostseite in die Stadt hinein. Tief im Thale findet man eine Anlage von zusammenhängenden Fabrikgebäuden, die, von der Ruhr sanft umflossen, einen reizenden Anblick gewähren. Beim Eintritt in die Stadt überschreitet man mittelst einer hölzernen Brücke den Ruhrfluß zum ersten Mal und man befindet sich nunmehr dicht bei den ehemaligen Klostergebäuden, in welchen sich jetzt die Schulen, darunter auch die höhere Stadtschule, sowie die Wohnung des bekannten Geschichtsschreibers Pauly befinden. Letzterem wollte ich einen Besuch abstatten, fand ihn aber nicht zu Hause. Er hat nämlich die diesjährige Zeit der Schulferien dazu benutzt, um mit einer Gesellschaft aus Brüssel, zu welcher er gehört, eine Reise nach Rom zu machen; in welcher Absicht, weiß ich nicht.

   Die Kirche dieses ehemaligen Klosters ist jetzt die Stadt - Pfarrkirche. Sie ist aus grauen Schiefersteinen ausgeführt und, bei einer Weite, die der unseren Kirche in Roetgen gleich kommt, ohne Säulen gebaut. Nordöstlich von dieser Kirche, am linken Ruhrufer, befindet sich die zeitweilige Wohnung des Oberpfarrers. Montjoie bildet nämlich eine Oberpfarre 2. Klasse. Weiter zurück, und zwar auf dem jenseitigen (linken) Ufer der Ruhr, steht die Kirche der Lutheraner. Das Flußbecken zieht sich dicht vor der Front und dem Eingang dieser Kirche hin, so daß eine über den Fluß gebaute gußeiserne Brücke uns direkt vom rechten auf das linke Ufer und in die Kirche hinein führt. Bald folgt nun eine dritte und zwar diesmal eine steinerne Brücke, die uns vom rechten Ufer zurück und auf das linke und den Marktplatz hinführt. Hier befindet sich das Schlickumshaus mit der Posthalterei. Über eine sich an dieses Haus knüpfende merkwürdige geschichtliche Erinnerung siehe das I. Blatt Montjoier Geschichte von Dr. Pauly.

   Vom Marktplatze, drei steinern Treppen hinaufsteigend, gelangt man zur Kirchstraße, an welcher in beträchtlicher Höhe die frühere kath. Pfarrkirche steht. Diese Stelle kann man aber auch erreichen, ohne den Ruhrfluß zu passieren. Man geht alsdann nämlich an der ersten Brücke vorbei und über den „Steinlings“, einer engen, schlecht gepflasterten Straße hinüber, die nach der erwähnten Kirchstraße hinführt. Am Steinlings befindet sich das Friedensgericht. Auch ist der Steinlings eine von jenen Stellen, wo, einer alten Nachricht  zufolge, eine von den ersten fünf bis sechs Wohnungen des Montjoier Landes (vor und während der Zeit Karls des Großen) gestanden haben soll.

   Mein Weg führt mich auf die oben beschrieben Art durch die Stadt, nämlich beim Eintritt vom linken Ufer der Ruhr über die Brücke, auf das rechte, dann den Fluß hinauf bis zur dritten beschriebenen Brücke, wo ich wieder das linke Ufer und den Marktplatz betrat. Vom Marktplatz hinauf durch das Westende der Stadt, sowie auch jenseits derselben bis zur „Dreisteger - Mühle“ hält die Straße dann auch immer das linke Ufer inne. Jenseits der Stadt befinden sich die bedeutendsten Fabrikgebäude.                                                                                                    

   Den 27. September: Die Straße von Montjoie nach Kalterherberg tritt am Westende des ersteren Ortes aus der Stadt und verfolgt die Ruhr bis zur Dreisteger - Mühle. Hier tritt sie in das Thal des Perlbaches ein, aus dem sie sich weiter hinauf, jedoch langsam und allmählich, wieder hinaus windet und daher einen bedeutenden Umweg macht, um Kalterherberg zu erreichen. Die Telegraphenlei­tung zwischen Montjoie und Malmedy ist an der Seite derselben angelegt. Hinterhalb der Stadt Montjoie hat die Straße eine ebene Lage, so daß sie bis zur Dreisteger - Mühle weder steigt noch fällt, ist aber wie auch unser Eingangsweg in die Stadt mit himmelhohen Bergen umlagert. Am Ausgange der Stadt, auf der Südseite der Ruhr, steht die Vogelstange. Beiläufig gesagt, bestehen im ganzen Kreise Montjoie nur zwei Schützengesellschaften; nämlich ein in Montjoie und eine in Zweifall. Die Straße nach Kalterherberg überschreitet den Ruhrfluß da, wo der Perlbach in letzterem mündet.

  Unterhalb der Mündung des Perlbaches in die Ruhr findet man die „Dreistegermühle“, eine kleine Fabrikanlage und so genannt von einer Stelle hierselbst, welche „An den drei Stegen“ heißt. Auch befindet sich hier eine bedeutende Schiefergrube. Über die Ruhr ist oberhalb der Einflüsse des Perlbaches eine hölzerne Brücke gebaut, mittelst welcher man über den brausenden Fluß gelangt. Ich sage den brausenden Fluß, denn gerade oberhalb dieser Brücke befindet sich ein Wasserfall, der das Wasser brausend und schäumend macht. Wenn auch das Wasser nur fünf bis sechs Fuß tief stürzt, so kommt es doch unser einem merkwürdig vor, der so etwas nie gesehen hat. Es dürfte daher Dir nicht sehr kindisch scheinen, wenn ich Dir sage, daß ich hier jedes Mal stehen bleibe und mir diesen Wasserfall mit Verwunderung betrachte.  

   Die Landstraße verläßt nun das Ruhrthal und zieht sich an der linken Seite des Perlbaches durch das Thal hin, welches sie später auch wieder verläßt, indem sie sich allmählich den Berg hinan windet und auf der Höhe angelangt nach Kalterherberg hinführt. Um den Umgange zu entgehen, den die Chaussee macht, gebrauche ich fast immer den alten Weg, welcher geradezu den Berg hinan führt. Zwar ist derselbe in Anfang etwas rauh und steil; sobald man aber auf der Höhe angelangt ist, führt er durch Tannengebüsch und ist bei trockenem Wetter für Fußgänger viel angenehmer als die Landstraße. Man hat auch auf diesem Wege von der Höhe hinab die schönste Aussicht auf daß Thal und des sich durch dasselbe windenden Perlbachs.

   An der anderen, sich nach der Ruhr abdachenden Seite dieses Berges führt ein unbequemer Weg nach dem westlich gelegenen Reichenstein hin. Im vergangenen Frühjahr bin ich, in Begleitung eines Oheims von mir, diesen Weg einmal gegangen. Letzterer hatte ein kleines Geschäft auf den Hofe zu machen und mich zog, da ich ohnedem geschäftehalber nach Montjoie reiste, die Neugierde, mit zu gehen, um das alterthümliche und an die Frömmigkeit unserer Vorfahren erinnernde Bauwerk, von dem ich in frühester Jugend schon reden gehört hatte, einmal in Augenschein zu nehmen. Wir hatten dabei das Unglück, vom rechten Wege abzukommen und gerieten in das Thal der Ruhr hinein, aus dem wir uns nur mit der größten Mühe durch dickes Gestrüpp kletternd, wieder heraus arbeiteten.                                                                                                      

   Den 28. September:  Reichenstein liegt sehr anmuthig auf einer von der Ruhr halbinselförmig umflossenen bewaldeten Anhöhe. Schon von weitem erkennt man die ehemalige Bestimmung dieser Anlage an der noch gut erhalten Kirche, die im gothischen Stil erbaut ringsum mit Strebepfeilern umgeben ist. Sämtliche Gebäude, so wie auch die Kirche sind von außen mit Kalk übertüncht, gleichsam um anzudeuten, daß sie jetzt zu profanen Zwecken dienen. Beim Eintritt in die verschiedenen Wirthschaftslokalitäten erstaunt man über die Großartigkeit, mit welcher hier fast alle landwirthschaftlichen Gewerbe betrieben werden. Man findet hier nicht allein Erzielung der gewöhnlichen Feldfrüchte im weitesten Umfange, sondern neben Ackerbau und Viehzucht besteht eine ansehnliche Brennerei, Bierbrauerei, Bäckerei etc. Eine in der Nähe gelegene Fruchtmühle gehört ebenfalls zum Gute. Im vergangenen Frühjahr wurden hier bis zu 30 Morgen Ackerland mit Kartoffeln bepflanzt; die große Anzahl der Zucht und Mastschweine, nämlich über 60 Stück, gab uns eine Ansicht von der dortigen Viehzucht. Was die Schnapsbrennerei anbelangt, so ist der dort bereitete Kornbranntwein im ganzen Montjoier Land unter dem einfachen Namen „Reichensteiner“ sehr beliebt.

   Die meisten Ländereien liegen nord- und ostwärts vom Gebäudekomplex und erstrecken sich nach dieser Seite hin bis an das Dorf Mützenich. Das ganze wird durch einen Verwalter überwacht, der die Aufsicht über die verschiedenen Arbeiten hat und daneben das Comptoir  (Buchhaltung) führt. Der Gefälligkeit dieses Verwalters hab ich die erstmalige Besichtigung einer Dreschmaschine zu verdanken, die dort eben am Arbeiten war. Dieselbe wurde von drei Pferden in Bewegung gesetzt und zur Bedienung waren sieben Personen da. Sie stand in der ehemaligen Kirche, was ein eigenthümliches Gefühl in mit erweckte; denn es sieht so sonderbar aus, daß man die hohen gothischen Fenster bis auf ein kleines Loch zugemauert, die Wölbung, um noch mehr Raum zu gewinnen, herunter geschafft und die nördliche Wand durch Anbringung eines großen Einfahrtsthores durchbrochen und verunstaltet hatte. Es sieht so frevelhaft aus, daß die Kirche, ein geweihthes Haus, worin ehedem so oft heilige Gebete empor stiegen und fromme Gesänge erschallten zur Ehre und zu Lobe Gottes, jetzt als Scheune dient und statt der heiligen Lieder und Gebete das Geklapper einer Dreschmaschine und wer weiß wie oft Flüche und Verwünschungen und die mannigfaltigsten unsittlichen Reden und Lieder der um kargen Lohn dienenden Tagelöhner und Dienstboten gehört werden muß.

   Wo die dort höchstwahrscheinlich in hinreichender Anzahl vorhanden gewesenen Kirchengeräthe, an deren Stellen jetzt große Fruchtbarme liegen, hingekommen sind, weiß ich nicht. Da fast alle Klöster sich früher damit beschäftigten, Archive und Chroniken zu halten, so liegt nichts näher, als das auch im Kloster Reichenstein solches bestanden hat, und durch dessen Zerstörung bei Gelegenheit der bekannten Säkularisation vielleicht der Kenntnis unserer Spezial – Landesgeschichte einen unersetzlichen Schaden zugefügt ist worden; denn wie manche Nachricht wird nicht darin enthalten gewesen sein, die über ältere ganz unbekannte oder doch sehr ins Dunkel steckende Begebenheiten ein helles Licht verbreiten könnten und nunmehr verschwunden sind. Für einen von allen religiösen Ansichten enthkleideten Beobachter läßt Reichenstein nichts zu wünschen übrig, denn es ist in seiner jetzigen Gestalt, wie Kaltenbach (in seinem „Regierungsbezirk Aachen“) sagt, eine großartige Musterwirthschaft; sind doch die „Reichensteiner Kartoffeln“, „Reichensteiner Käse“ und nicht minder der „Reichensteiner Branntwein“ rundherum rühmlichst bekannt.

   Den 6. Oktober:   Du wirst es mir, lieber Freund, nicht verübeln, daß dieser Brief nach seiner Vollendung so lang zurückgehalten worden ist, denn ich habe denselben vorerst kopiert und in meiner Privatschriftensamm­lung niedergelegt.

 Darüber ist nun eine geraume Zeit verstrichen, indem verschiedene andere Arbeiten noch viele Zeit in Anspruch nahmen. Bevor ich jetzt die Beschreibung weiter fortsetze, bitte ich Dich, mich zu benachrichtigen, ob die Sache Dich auch soviel interessiert, daß es der Mühe werth ist, sie zu vollenden; und zwar wünsche ich diese Antwort sehr bald zu erlangen; damit, wenn sich binnen einiger Tagen wieder Zeit und Gelegenheit zum Schreiben darbietet, ich dieselbe benutzen kann. In Erwartung also, Dir durch diesen anspruchslosen Brief  eine Freude gemacht zu haben, verbleibe ich Dein stets ergebener,

                                                                                   Hermann Josef Cosler.